Von Maria Schneider
Ach wie schön ist doch die deutsche Bimmelbahn. Wenn nostalgische Gefühle in einem aufkommen und man sich wie im Portugal oder Afrika des letzten Jahrhunderts fühlen will, muss man einfach nur den IC der Deutschen Bahn nehmen.
Ich empfehle zu diesem Zweck den IC 2371 um 17:20 Uhr ab Frankfurt Main.
Auf Grund meines Berufs weiß ich nie, welchen Zug ich letztlich nehmen werde. D.h. ich komme selten in den Genuß von Sparpreisen und kann häufig erst 30 Minuten vor Abfahrt des Zuges einen Platz reservieren.
Immer gerüstet mit Plan A, B und C
Im Falle dieses ICs weiß ich aus Erfahrung, dass er gerade bei Pendlern sehr beliebt ist. Zudem ist an jenem Tag gerade wieder sehr viel los in Frankfurt und mir ist klar, dass der Zug noch voller als sonst sein wird. Also habe ich in weiser Voraussicht 1. Klasse gebucht, war aber ganz besonders alarmiert, als auf der Bahnseite schon 30 Minuten vor Abfahrt keine Reservierungen mehr möglich waren. Manchmal bedeutet dies, dass etwas mit der Darstellungsmöglichkeit nicht stimmt, meistens jedoch, dass der Zug ausreserviert und pickpacke voll sein wird.
Mit 25 Jahren Dauerreisen in der Bahn, habe ich für solche Fälle natürlich schon längst Strategien entwickelt:
Plan A: Ticket 1. Klasse. Bereits umgesetzt.
Plan B: Bitte an die Kollegin, früher gehen zu dürfen. Ebenfalls umgesetzt. Als Vielreiserin weiß ich, dass diese ICs immer ca. 10 Minuten vor Abfahrt eintreffen. Mangels Reservierung muss man also in diesem Fall frühzeitig direkt bei Einfahrt des Zuges bereitstehen, um als eine der ersten Einsteigenden einen der wenigen, unreservierten Sitzplätze nach dem Motto, „Wer zuerst kommt, kriegt einen Sitzplatz“ zu ergattern.
Auf in den Kampf am Frankfurter Bahnhof
Nachdem ich mich am Bahnhof durch dichte Menschenmassen, bettelnde Bulgarier und lungernde, afrikanische Männer bis ans Gleis 13 durchgekämpft habe, sehe ich mit Schrecken auf der digitalen Wagenstandsanzeige, dass die 1. Klasse am anderen Ende des Gleises in Abschnitt D ist. Während mein Zeitpuffer von 10 Minuten abläuft, renne ich gegen den Strom Hunderter Menschen, die am Nebengleis ausgestiegen sind, 500 Meter nach vorne. Meinen Koffer muß ich dabei zwischen den vielen Menschen manövrieren. Neben mir joggt ein Manager mit seinem Ziehkoffer in die gleiche Richtung.
Zu früh gefreut
Nicht ohne ein gewisses Triumphgefühl komme ich mit dem Manager in Abschnitt D an, wo viel weniger Menschen stehen. „Plan A und B erfolgreich abgeschlossen“, denke ich erleichtert, als der Zug auch schon einfährt, mit der 1. Klasse direkt hinter dem Triebwagen. Sie dreht mir eine freche Nase und fährt schadenfroh in Abschnitt A ein.
Wenigstens darauf ist bei der Bahn immer Verlaß: Sie schafft es immer wieder von Neuem, einem noch einen Tiefschlag und noch mehr Stress zu bereiten, egal, wie penibel man sich vorbereitet und meint, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
Nach einem langen Arbeitstag stehe ich tatsächlich ein paar Sekunden lang vor lauter Fassungslosigkeit mit offenem Mund da, bevor ich mich mit den anderen „Erstklässlern“ auf dem Absatz umdrehe und nach vorne in Abschnitt A zurücksprinte – wieder durch Menschenmassen und in gefährlicher Schubsnähe zum Rand des Nebengleises, da dort die wenigsten Menschen sind.
Einschub: Warum überhaupt die vielen Gleissprinte?
Natürlich ist dies nicht das erste Mal, dass ich mit der 1. Klasse oder meinem Reservierungswagen Fangen spielte. Erst jüngst legte ich allein am langen Wolfsburger Gleis insgesamt fast 2,5 Kilometer zurück, weil sich die digitale Wagenstandsanzeige ständig änderte, um schließlich mit Einfahrt des Zuges meinen Endspurt über 750 Meter zurückzulegen, weil der Zug dann doch wieder die ursprüngliche Wagenreihung hatte.
Wer nun wissen möchte, warum man nicht einfach einsteigt und sich gemütlich durch den Zug nach vorne arbeitet, dem sei gesagt: Wer versucht, in einem vollen Zug mit einem Koffer von einem Zugende zum anderen zu gelangen, wird erkennen, dass eher ein Reicher in das Himmelreich einkehrt, als das man vor Ankunft am Zielort noch seinen reservierten Sitzplatz erreicht.
Weiter im Text:
Dank jahrelanger Erfahrung kann ich Menschenmengen am Gleis mühelos auf die Auslastung des Zuges hochrechnen und wußte daher schon, dass dieser Zug aus allen Nähten platzen würde. Zu allem Überfluss fehlten Wagen 10 und 11 der 2. Klasse (vielleicht während der Fahrt auseinandergefallen?), was bedeutete, dass die Ärmsten wieder zwischen den Abteilen der 1. Klasse sitzen und im Gang wie die Sardinen würden stehen müssen. Auch das ist schon lange traurige Realität. Hämische Antwort der Schaffner und der Bahn bei Beschwerden: „Mit Erwerb des (ohnehin hochpreisigen) Tickets hat man keinen Anspruch auf einen Sitzplatz.“ Ach so. Also dann lieber den Beschwerdeatem sparen.
Sitzplatzsuche und „blindes Sitzen“
Schließlich komme ich japsend und fluchend mit meinem Koffer im Schlepptau am Waggon der 1. Klasse an und steige – da mein Zeitvorteil inzwischen weg ist – erst als Siebente ein, was nie gut ist. Schnell verschaffe ich mir einen Überblick über die neue Situation: Weder in den durchsichtigen Kunststoffanzeigen, die manchmal noch für Papierreservierungen verwendet werden, noch auf der digitalen Anzeige daneben sind Reservierungen zu sehen. Das ist schlecht und bedeutet „blindes Sitzen“ mit der Aussicht, jederzeit vertrieben werden zu können. Auch dies ist beileibe nichts Neues, sondern schon seit Jahren traurige Realität, wie auch die vielen Zugausfälle, weil es immer weniger Lokführer gibt, die eine solch verantwortungsvolle Aufgabe zum Sklavenlohn ausführen wollen.
Bei Reservierungsanzeigenversagen in überfüllten Zügen tritt nun Plan C in Kraft: Die drängenden und schnaubenden Menschen hinter einem ignorieren, den Gang blockieren, kurzen Überblick verschaffen und den nächstbesten Sitzplatz sofort ergattern.
Gott sei Dank, ich sitze, doch die Blase meldet Notstand
Gesagt, getan. Erschöpft lasse ich mich auf einen der letzten freien Plüschsitze im verratzten Abteil fallen und bin froh, die heiße Schlacht um einen durchgesessenen Sitzplatz mit blauem, speckigem Kopfstützenschonbezug vorerst gewonnen zu haben. Bevor ich es mir „gemütlich“ mache und mir im tiefliegenden Sitz eine Gesäßmassage durch die Schienenschwellen gönne, begebe ich mich auf meine nächste Mission: Die Suche nach einer funktionierenden Zugtoilette. Meine Blase sendet zwar schon seit 45 Minuten Notsignale, aber der Zeitpuffer und ein Sitz hatten höhere Priorität.
Auf der Suche nach der funktionierenden Toilette
Ich gehe also mit meinen Sakrotantüchlein (Regel Nummer 1: Betritt niemals einen Zug ohne Sakrotan) zur Zugtoilette. Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein: Die Toilette ist kaputt. Also laufe ich im Stechschritt vor zur nächsten Toilette und treffe auf einen ältlichen, resignierten Schaffner, der auch als Diener beim „Dinner for two“ fungieren könnte.
Er kommt mir gerade recht: „Wissen Sie, dass auf dem Wagenstandsanzeiger die 1. Klasse im Abschnitt D stand und ich den ganzen Weg vor zu Abschnitt A rennen mußte? Außerdem ist wieder mal die Toilette kaputt. Selbst in Afrika sind die Züge moderner.“
Überraschenderweise kontert er: „Dann gehen Sie doch nach Afrika.“
Aber auch ich bin nach 10 Jahren Dauerfolter in der Deutschen Bahn um keine Antwort mehr verlegen: „Wieso ich? Sie wohnen doch in diesem afrikanischen Zug“, und begebe mich zur nächsten vorsintflutlichen Toilette, nicht ohne ein weiteres gelbes Schild „Tür defekt“ zu bemerken, dass diesmal an einer der Ausgangstüren prangt.