Die EU feiert sich nach Brüssel-Sitzung als entschlossener Machtblock, der „endlich“ Schluss mit russischem Gas machen will – doch hinter der Kulisse des großen Befreiungsschlags lauert ein energiepolitischer Albtraum. Ab dem Jahr, in dem endgültig kein Kubikmeter Gas mehr aus Russland kommen soll, steht ein Kontinent vor der Frage, wie Industrie, Haushalte und Stromversorgung ohne verlässliche, planbare Grundlast auskommen sollen. Was als moralische Heldengeste verkauft wird, ist in Wahrheit ein hochriskantes Experiment mit der Lebensader der europäischen Volkswirtschaft. Schon jetzt sind Speicher, Netze und Alternativen vielerorts auf Kante genäht, Ersatzlieferungen aus aller Welt teuer, politisch fragil und vielfach ebenfalls aus zweifelhaften Regimen – nur ohne die Ehrlichkeit, das auch so zu benennen.
Mit dem „Russengas-Aus“ wird eine Abhängigkeit durch viele neue ersetzt: Flüssiggas aus Übersee, teils von Anbietern, die selbst alles andere als stabile Demokratien sind, wird zum Notnagel, während gleichzeitig Klimaziele, Strompreise und Wettbewerbsfähigkeit kollidieren. Die Kommission verlangt von allen Mitgliedstaaten nationale Ausstiegspläne, verbietet neue Lieferverträge und will selbst langfristige Verträge auslaufen lassen – eine gewaltige Fessel für Länder, deren Industrie schon heute unter explodierenden Energiepreisen ächzt. Für energieintensive Branchen bedeutet das: Standortfrage statt Standortvorteil. Unternehmen verlagern Produktion, Arbeitsplätze wandern ab, und der Traum von „strategischer Autonomie“ verwandelt sich in die bittere Realität eines Kontinents, der sich freiwillig schwächt, während andere Regionen billig Energie einkaufen – notfalls auch genau dort, wo die EU aus Prinzip nichts mehr beziehen will.
Hinzu kommt: Die angebliche Einigkeit ist in Wahrheit brüchig und erkauft. Länder wie Ungarn und die Slowakei warnen laut vor einer energiepolitischen Harakiri-Aktion, klagen über existenzielle Bedrohung ihrer Versorgung und drohen mit Klagen gegen Brüssel. Damit baut die Union nicht nur die Brücke nach Osten ab, sondern auch neue innere Gräben zwischen West und Ost, Arm und Reich, energiepolitischen Hardlinern und Verlierern der Strategie. Eine Notfallklausel, mit der das Verbot bei Versorgungsengpässen kurzfristig ausgesetzt werden kann, zeigt, wie wenig Vertrauen selbst die Verfasser in ihren eigenen Plan haben. Am Ende steht eine EU, die lautstark Unabhängigkeit von Moskau verkündet – und gleichzeitig zulässt, dass Bürger und Betriebe die Zeche für ein politisches Prestigeprojekt zahlen, dessen Risiken größer sind als jede gefeierte Symbolkraft.
