BGH-Urteil zu lebensverlängernden Maßnahmen, Weiterleben ist kein Schaden

 

Das Leben. Manche finden es unerträglich, werfen es eines Tages einfach hin. Andere versuchen im Gegenteil, es künstlich zu verlängern; sie lassen nach dem Tod ihren Körper einfrieren, damit er irgendwann wiederbelebt wird. Die meisten aber schenken dem Leben im Alltag kaum Beachtung – so, als gäbe es Wichtigeres. So geschieht es auch nicht alle Tage, dass Juristen über den Wert menschlichen Lebens entscheiden müssen – noch nicht einmal auf der Ebene des Bundesgerichtshofs. Insofern lohnt es sich, über die jüngste Entscheidung des BGH etwas länger nachzudenken. Es beginnt bereits beim Kläger. In den USA lebend fordert er für lebensverlängernde Maßnahmen an seinem in Bayern verstorbenen Vater Schadenersatz – pro forma für den Vater, de facto für den Alleinerben: sich selbst. Der Sohn könnte auf mehr Verständnis hoffen, hätte er den Vater vor Ort begleitet. Als er starb, hatte er die letzten fünf Jahre kommunikations- und bewegungsunfähig im Krankenbett verbracht, nur durch eine Magensonde am Leben erhalten. Das wünscht man keinem. Viele, die ein solches Schicksal bei einer ihnen nahestehenden Person miterleben müssen, sagen: Das ist kein Leben. Das will ich nicht. Für sich selbst können sie das sagen. Und das Gute ist: Für sich selbst kann das auch jeder entscheiden. Er muss nur rechtzeitig eine Patientenverfügung abgeben oder mindestens seinen Willen klar äußern. In dem Fall, über den jetzt der BGH entschied, war dies nicht erfolgt. Deshalb konnte es auch kein anderes Urteil geben. Aber natürlich geht es um die grundsätzlichere Frage: Kann Leben überhaupt Schaden sein? In dem Fall wäre die Herbeiführung des Todes, mindestens aber die Nichtverlängerung des Lebens Schadensverhinderung. Jeder, der einen mutmaßlichen Selbstmörder rettet, könnte schadensersatzpflichtig werden. Absurd. Das Grundgesetz räumt dem Recht auf Leben in Artikel 2 höchste Priorität ein. Die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung hatten die Vernichtung für »unwert« erklärten Lebens in der Nazi-Zeit noch vor Augen. Heute vertreten wieder Leute öffentlich oder privat die Idee, für den einen oder anderen Kranken oder Behinderten wäre der Tod eine Erlösung. Kann sein, der Betroffene empfindet genauso. Doch sollen niemals andere über ihn entscheiden dürfen. Im Gegenteil: Sie haben die ethische und religiöse, im Falle der Ärzte auch berufliche Pflicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zum Erhalt dieses Lebens beizutragen. Nur der kann den Wert eines Lebens bestimmen, der es besitzt. Kein Familienangehöriger. Kein Betreuer. Keine Krankenversicherung. Und auch nicht der Staat. Daher ist es so wichtig, dass mehr Menschen das Mittel der Patientenverfügung nutzen, um ihren Willen auch kundzutun.

 

Westfalen-Blatt