Berlin/Erfurt (dts Nachrichtenagentur) – Die Ankündigung des Thüringer Regierungschefs Bodo Ramelow (Linke), die landesweiten Corona-Beschränkungen aufzuheben, sorgt für Wirbel. „Der Übergang von `Ver- zu Geboten` in Thüringen klingt verlockend, zumal die Corona-Statistik eine positive Entwicklung zeigt“, sagte SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken der „Welt“ (Montagausgabe). Auf der anderen Seite seien Berichte über hunderte Ordnungswidrigkeiten wegen Verstößen gegen das Abstandsgebot beunruhigend.
„Menschen brauchen offenbar weiterhin Klarheit, Sicherheit und Orientierung durch überregionale Regeln wie zur Hygiene, zum Abstandhalten und zur Eingrenzung naher Kontakte.“ Die meisten Bürger hätten sich „während des Lockdowns in hohem Maße verantwortungsvoll verhalten und tun dies auch jetzt noch, wo wir in die Phase der vorsichtigen, regional unterschiedlichen Lockerungen einsteigen“. Offensichtlich könnten nicht alle gleich gut mit diesen neuen eigenverantwortlichen Verhaltensregeln umgehen – „wie Beispiele im Landkreis Leer und anderswo zeigen“. Esken kritisierte zudem den FDP-Bundesvorsitzenden scharf. „Wenn ein führender Politiker wie Christian Lindner schon wieder Gäste zum Abschied umarmt, während er gleichzeitig eine `Aufarbeitung` der Maßnahmen der Regierung fordert, ist das einfach nur unverantwortlich. Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn die Menschen nicht mehr folgen können.“ Auch die SPD-Bundestagsfraktion lehnte den Ramelow-Plan scharf ab. „Ich halte die Strategie des Landes Thüringen für gefährlich“, sagte SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas. Ramelow verlagere damit die Verantwortung auf die einzelne Kommune. „Wo niedrige Infektionszahlen sind, können weitere Lockerungen stattfinden, aber sämtliche Schutzmaßnahmen aufzuheben bringt Risikogruppen in Gefahr.“ Und auch die Unionsfraktion zeigte sich kritisch. „Den von Ministerpräsident Ramelow für Thüringen angekündigten kompletten Verzicht auf die Corona-Schutzvorschriften und stattdessen das Setzen allein auf Selbstverantwortung und lokal begrenzte Maßnahmen halte ich für sehr früh“, sagte Fraktionsvize Thorsten Frei (CDU) der „Welt“. „Ich hätte mir auch eine engere Abstimmung mit dem Bund und den anderen Ländern gewünscht. Der Wunsch, schnell in die Normalität zurückzukehren, ist nachvollziehbar, aber auch gefährlich. Die Pandemie ist ja nicht beendet.“ Dies zeigten etwa die jüngsten Infektionen in einer Kirchengemeinde in Frankfurt am Main sowie von Restaurantbesuchern im niedersächsischen Leer. „Die Kontrolle über das Infektionsgeschehen kann uns schnell wieder entgleiten, wenn wir die Lockerungen zu forsch angehen.“ Der Christdemokrat wies zudem auf einen erschwerenden Umstand auf lokaler Ebene hin. „Die organisatorischen Herausforderungen vor allem für die Gesundheitsämter, mit lokal begrenzten Maßnahmen gegen einzelne Infektionsherde vorzugehen, ist enorm. Nur wenn hier die organisatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, einzelne Infektionsketten effektiv nachzuvollziehen, halte ich den vollständigen Verzicht auf die Schutzmaßnahmen momentan für verantwortbar.“ Auch aus dem Saarland wurde Kritik an Ramelows Vorstoß laut. „Unser aller Job in der Politik ist jetzt nicht alleine, Sehnsüchte zu stillen – auch wenn diese nachvollziehbar sind -, sondern weiter nüchtern, verantwortungsvoll und wissenschaftsgeleitet abzuwägen und der Gesellschaft helfen, diese Pandemie zu durchstehen“, sagte der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU). Sicherlich müsse man den Bürgern jetzt „Perspektiven geben, etwa mit Blick auf die Betreuung in Kitas und auch für die Freizeitgestaltung mit mehr als nur einem weiteren Haushalt“. Bei allen Lockerungen müsse aber gelten: „Wir brauchen auch weiterhin staatlich vorgegebene Regeln, damit die Vorsichtsgebote eingehalten werden, um dadurch regionale Lockdowns sowie erhöhte Todesraten zu vermeiden“, so der CDU-Politiker. Die Pandemie sei nicht vorbei, davor dürfe man nicht die Augen verschließen und so tun, „als wären wir schon durch“. Es gehe jetzt um größtmögliche Normalität im Ausnahmezustand. Die FDP-Fraktion hingegen zeigte Verständnis für das Thüringer Vorgehen. Wenn man das „ganze Land zu lange ins künstliche Koma“ versetze, „kann das verheerende soziale und wirtschaftliche Nebenfolgen nach sich ziehen“, sagte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Eine zweite Infektionswelle könne sich jederzeit ereignen. „Wenn wir mit der Lockerung der Maßnahmen aber warten wollen, bis die Gefahr endgültig gebannt ist, kann das lange dauern. Sollte sich ein Infektionsgeschehen örtlich auf einzelne Landkreise, Gemeinden oder auch nur Einrichtungen begrenzen lassen, wäre es unverhältnismäßig, wieder einen Lockdown über das ganze Land von der Nordsee bis zu den Alpen und vom Rhein bis zur Oder zu verhängen.“ Demgegenüber seien „punktgenaue Maßnahmen zu bevorzugen, allerdings sollten diese nach bundeseinheitlichen Regeln erfolgen“. Die AfD im Bundestag lobte das Vorgehen der rot-rot-grünen Regierung in Erfurt und stellte sich selbst als Ideengeber dar. „Die AfD-Fraktion begrüßt die Lockerungen in Thüringen und stellt wieder einmal fest: AfD wirkt“, so Fraktionsvize Sebastian Münzenmaier. „Bereits seit Mitte April beschreiten wir den nun auch regierungsseitig in Thüringen eingeschlagenen Weg, und sowohl im Bundestag als auch im Thüringer Landtag haben wir klar und unmissverständlich die sofortige Beendigung des Shutdowns gefordert. Leider läuft Herr Ramelow unseren guten Ideen wieder sechs Wochen hinterher.“ Die AfD glaube an „die Eigenverantwortung unseres Volkes“ und sei überzeugt, „dass die momentanen Infektionszahlen die unglaublich harten Maßnahmen nicht rechtfertigen“.
Foto: Weggeworfener Mundschutz, über dts Nachrichtenagentur