Einzelhandel im Ausnahmezustand: Nach der Pandemie ist nichts mehr wie früher – vor allem nicht die Kundschaft! Verkäufer berichten von Respektlosigkeit, Rücksichtslosigkeit und blanker Aggression. Psychologen schlagen Alarm – und fordern ein gesellschaftliches Umdenken.
Von unseren Reportern in Berlin, Paris, Wien und Madrid
Der Laden ist voll, die Nerven liegen blank. Eine Kassiererin in einem Supermarkt in Norditalien bekommt eine Getränkedose an den Kopf geworfen – „weil’s zu langsam ging“. In einem Pariser Modehaus brüllt ein Kunde die Verkäuferin an, weil die gewünschte Größe ausverkauft ist. Und in einem Baumarkt in Wien kommt es zu einer handfesten Schlägerei – wegen eines Parkplatzes.
Einzelfälle? Leider nein.
Nach Corona scheint sich in den Köpfen vieler etwas verändert zu haben. Und zwar nicht zum Guten.
Der Einzelhandel in ganz Europa meldet eine spürbare Veränderung im Verhalten der Kundschaft. Wo früher ein Lächeln reichte, gibt es heute einen Wutanfall. Wo früher Fragen gestellt wurden, wird heute gefordert, gedrängelt, geschrien.
„Wir erleben eine regelrechte Verrohung“, sagt Annette G., Filialleiterin einer Drogeriekette in Köln. „Viele Kunden haben ihre soziale Kompetenz in der Pandemie verloren. Es ist, als hätten sie den Umgang mit Menschen verlernt.“
Psychologen: Isolation hat Spuren hinterlassen
Auch Experten bestätigen den Trend. Der französische Verhaltensforscher Prof. Lucien Moreau spricht von einem „postpandemischen Kollektiv-Stress-Syndrom“. Die Mischung aus Angst, Isolation, wirtschaftlichem Druck und digitalem Dauerbeschuss habe das soziale Miteinander nachhaltig beschädigt.
„Wir sehen zunehmend Enthemmung, Frustration und impulsives Verhalten“, so Moreau. „Viele Menschen leben in einem Dauerstresszustand – und entladen diesen an der falschen Stelle: beim Personal im Einzelhandel.“
Verkäufer berichten von absurden Szenen
In einem Supermarkt in Amsterdam schrie ein Kunde minutenlang, weil sein Lieblingsjoghurt nicht mehr im Sortiment ist. Eine Mitarbeiterin eines Elektrohandels in Leipzig wurde als „Versagerin“ beleidigt, weil sie dem Kunden die Rückgabe eines beschädigten Geräts verweigerte.
„Es ist wie im Kindergarten – nur ohne Erzieher“, sagt Jonas H., Verkäufer bei einem großen Möbelhaus. „Viele sind respektlos, ungeduldig, fordernd – und leider oft auch einfach dumm.“
„Dümmer geworden“ – was heißt das konkret?
Viele Händler berichten, dass das allgemeine Verständnis für Abläufe, Technik oder Rückgaberechte drastisch gesunken sei. Ein Verkäufer aus Spanien erzählt: „Kunden fragen, ob man einen Toaster auch für Suppe benutzen kann. Manche wollen Rechnungen ohne Kaufdatum – oder reklamieren Produkte, die sie nicht mal bei uns gekauft haben.“
Sicherheitsdienste aufgestockt – Schulungen für Konfliktmanagement
Immer mehr Handelsketten reagieren – nicht etwa mit mehr Personal, sondern mit Sicherheitsdiensten und Schulungen zur Deeskalation. In Polen, Dänemark und Deutschland melden Handelsverbände eine deutliche Zunahme von Zwischenfällen mit Kunden, teils mit körperlicher Gewalt.
„Wir haben Angst, zur Arbeit zu gehen“, sagt eine Kassiererin aus Mailand. „Und das liegt nicht am Gehalt, sondern an den Menschen.“
Wer ist schuld? Politik, Pandemie – oder TikTok?
Die Ursachen sind vielfältig – und schwer zu greifen. Manche Experten sehen die Schuld bei der Politik, die während Corona mit Lockdowns und restriktiven Regeln Ängste geschürt habe. Andere verweisen auf die Vereinzelung durch Homeoffice und Online-Shopping – viele Menschen hätten schlicht verlernt, sich im öffentlichen Raum rücksichtsvoll zu verhalten.
Und dann wäre da noch der digitale Einfluss, etwa durch soziale Medien wie TikTok oder Instagram, wo Respektlosigkeit, Selbstinszenierung und Lautstärke oft gefeiert werden.
Der Einzelhandel zieht bittere Bilanz
„Es geht nicht mehr nur um schlechte Laune – es geht um eine Kultur des Egoismus“, sagt Lars S., Geschäftsführer einer Modekette in Hamburg. Kunden kämen mit einer Grundhaltung in den Laden: „Ich bin König – und du bist mein Fußabtreter.“
Dabei ist der Einzelhandel selbst schwer angeschlagen: Umsätze brechen ein, Innenstädte veröden, Personal ist knapp. „Statt Unterstützung gibt es Beschimpfungen“, klagt S. „Wenn das so weitergeht, wird sich bald keiner mehr diesen Job antun.“
Fazit: Corona ist vorbei – aber das soziale Klima ist krank
Die Pandemie mag überwunden sein – aber die Folgen sind noch spürbar. Aggression, Rücksichtslosigkeit und Dummheit haben Einzug gehalten – und der Einzelhandel ist an vorderster Front betroffen.
Es ist Zeit, die Maske nicht nur vom Gesicht zu nehmen – sondern auch vom Ego. Nur so kann das verloren gegangene Miteinander wieder wachsen.