Anti-Abschiebe-Industrie: Unwort des Jahres

Anti-Abschiebe-Industrie

 

 

Gibt es eine Anti-Abschiebe-Industrie? Sicher nicht: Aus dem Protest gegen die Rückführung von Flüchtlingen lässt sich kein Geschäftsmodell destillieren, das industriell herstellbaren Gewinn verspräche. Doch es gibt Kräfte, die in jedem Menschen, der zu uns findet, einen Gewinn sehen, und sei dieses Plus moralischer, immaterieller Natur. Naturgemäß formieren sich dann, wie es sich für eine pluralistische Gesellschaft gehört, Gegenkräfte, die im intellektuell erbarmungswürdigen »Wir schaffen das!« kein Argument erkennen. Folglich setzen sie auf den populistischen Stuss den groben Keil, wie es Alexander Dobrindt (CSU) tat, als er die Anti-Abschiebe-Industrie erfand. Ältere Bürger, die die Beiträge Herbert Wehners und Franz Josef Strauß’ noch im Ohr haben, sind an härtere Kost gewöhnt. Und? Ist die Republik damals vor die Hunde gegangen? Ach was: Jene Streitkultur wirkte belebend. Ob der Bundespräsident, als er die Unmöglichkeit beklagte, heute noch eine Debatte zu führen, die diesen Namen verdient, dabei an die beiden Könige des Zwischenrufs dachte? Ausweislich ihrer Homepage lassen sich die Juroren, die wieder mal ein »Unwort des Jahres« ausgesucht haben, von dem Wunsch leiten, die Welt zu verbessern. Schon bei Sokrates aber können sie lesen, dass, wer die Welt bewegen will, sich zuerst selbst bewegen sollte, aber es ist natürlich bequemer, aus der heimeligen Gelehrtenstube auf die böse Welt zu zeigen, wie sie sich in Unworten manifestiert. Da draußen knallen Türen, fliegen Fäuste. Schön, dass in Darmstadt Demokratie und Menschenwürde Asyl gefunden haben. Man könnte bei Weltverbesserern das Wissen voraussetzen, dass Demokratie und Menschenwürde nicht durch Sprachkritik leben, blühen und gedeihen, sondern durch soziales Handeln. Sprachkritik hingegen, die ungnädig auf abweichende Meinungen reagiert, trägt den Keim der Demokratiefeindschaft in sich: Sie versucht, unliebsame Meinungen zu unterdrücken. Sprache als soziales Konstrukt spiegelt die Heterogenität der Gesellschaft. Wer (Un-)Worte markiert oder zu verbieten trachtet, etabliert das Unterkomplexe, das bequem Beherrschbare: Rede, Mensch, wie es dir die Jury erlaubt. Wer kann das wollen?

 

Westfalen-Blatt